30 Jahre Ingenieurkammer Thüringen –
30 Jahre Zeitgeschichte: Rück – und Ausblicke
Sehr geehrte Damen und Herren/liebe Kolleginnen und Kollegen/liebe Ehrengäste
Prolog in eigener Sache
30 Jahre Ingenieurkammer Thüringen sind 30 Jahre Thüringer und gesamtdeutsche Zeitgeschichte, und ein vorsichtiger Blick in die Zukunft. Das will ich neben der Würdigung des Bisherigen auch des Notwendigen für die Zukunft mit der gebotenen Kritik, aber auch ingenieurgemäß konstruktiv ansprechen.
Die mir 2014 von Präsident Dräger und dem Vorstand verliehene Ehrenpräsidentschaft ist eine Verpflichtung, aber auch die Gelegenheit in der für mich neuen Freiheit von Amt und Beruf unbefangen über unsere Themen zu sprechen. Ich betone dieses Gefühl von Freiheit, weil es in den vergangenen 30 Jahren Interpretationen und Deutungen des Freiheitsbegriffs gegeben hat. Deshalb bitte ich Sie diesen Vortrag in der sachlichen Nüchternheit zu verstehen, die wir als Kammer, als freiberufliche Ingenieurinnen und Ingenieure und als Staatsbürger, immer von den Fundamenten aus gedacht, praktizieren.
Unsere Akteure im Ehrenamt – eine unvollständige Auswahl
Der Beginn
Wie ging alles los? Der Thüringer Landtag hat am 26.2.1992 in erster Lesung das Ingenieurkammer-Gesetz eingebracht, das im Juli 1993 im Landtag verabschiedet wurde. Am 28. Mai 1994 erfolgte mit der Vertreterversammlung in der Aula der Fachhochschule Erfurt die offizielle Gründung der Ingenieurkammer Thüringen. Eine entscheidende Voraussetzung für diese Entwicklung war die Gründung des Vereins Thüringer Ingenieurkammer, die am 20. Oktober 1990 in Weimar stattfand. Der Verein, der als seine Hauptziele die Gründung einer Ingenieurkammer und die Vertretung der Interessen seiner Mitglieder gegenüber Behörden und der Öffentlichkeit formuliert hatte, verstand sich als legitimierter Ansprechpartner für den (künftigen) Thüringer Landtag, wobei das Land Thüringen mit Wirkung vom 14. Oktober 1990 wieder gebildet wurde und der erste Thüringer Landtag am 25. Oktober 1990 im Deutschen Nationaltheater in Weimar, als erstes der neuen Länderparlamente, zusammentrat.
Alle in der Bundesrepublik gegründeten Ingenieurkammern sind dem jeweiligen Landesrecht unterstellt und verwaltungsrechtlich eine Körperschaft Öffentlichen Rechts. Die Bundesingenieurkammer vertritt alle Kammern der Länder bei den zuständigen Institutionen auf Regierungsebene. Diese Kammerstruktur ist bis heute so geblieben: Die Berufsfachliche Leitung wird im Ehrenamt wahrgenommen durch
den Vorstand (alle allgemeinen maskulinen Personen-Bennungen gelten auch im Femininum) mit einem Präsidenten, zwei Vizepräsidenten, 3 Beisitzern und einem Schatzmeister, der so offiziell nicht mehr benannt werden darf, nun aber als 4.Beisitzer mit den gleichen Aufgaben befasst ist.
Für die Berufsorganisatorische Verwaltung zeichnet eine hauptamtliche Geschäftsstelle verantwortlich. Der erste Kammer- und Gründungspräsident von 1994-2001 war Dr.-Ing. Brose, ein freiberuflich tätiger Ingenieur mit Büro in Gera. Ihm folgte bis 2004 Professor Dr. Wolfgang Storm, der leider unmittelbar nach seiner Wiederwahl zum Kammerpräsidenten, zu Beginn der 3. Vorstandslegislatur, verstorben ist. Ich hatte von 2004-2013 die Ehre, Präsident zu sein. Seit 2013 vertritt als Präsident Elmar Dräger die Kammer. Er steht 2024 erneut zur Wahl.
Ich möchte einige langjährige, aktive Kammermitglieder in Leitungsverantwortung seit der Gründung der Kammer mit Anerkennung und Dank hervorheben. Dies sind unter anderem: Dr.-Ing. Ulrich Dressel, Gera, Statiker und Prüfingenieur; Gunter Lencer, Diplom-Vermessungsingenieur aus Gotha, zertifiziert für hoheitliche Vermessungsaufgaben; Professor Dr.-Ing. habil. Hermann Saitz, Erfurt, für Aufgaben und wissenschaftliche Beiträge im Verkehrs-Infrastruktur- und Raumordnungs-Bereich. Er wurde 2010 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet; und viele andere ungenannte Kolleginnen und Kollegen.
Die Aktiven heute
Berufsorganisatorische Leitung im Ehrenamt wird aktuell durch den diplomierten Geologen Elmar Dräger wahrgenommen. Er ist Präsident seit 2013, Chef eines großen Ingenieurbüros und mehrerer Niederlassungen und sowohl fachlich als auch berufspolitisch sehr gut vernetzt. Er ist Vizepräsident der IHK Erfurt. Dem Präsidenten zur Seite stehen die beiden Vizepräsidenten, Diplom-Ingenieur Karl-Heinz Bartl, und Dr.-Ing. Hans-Reinhardt Hunger, beides freiberufliche Ingenieure mit Büro und eingetragen in die Liste der Pflichtmitglieder, sowie die Beisitzerinnen, die Beratende
Ingenieurin, Diplomgeologin, Silvia Reyer-Rode, mit eigenem Ingenieurbüro. Sie ist ehrenamtliche Vizepräsidentin der Bundesingenieurkammer in Berlin, ehrenamtliche Präsidentin des Landesverbandes der Freien Berufe Thüringen e. V. und Schatzmeisterin im AHO (Ausschuss der Verbände und Kammern der Ingenieure und Architekten für die Honorarordnung e. V.). Im Vorstand vertritt die Architektin, Diplom-Ingenieurin Tina Kaiser, Miteigentümerin eines Architektektur- Ingenieurbüros in Doppelmitgliedschaft in unserer Kammer und der Architektenkammer Aufgaben der Ingenieure aus der Sicht einer Architektin. Der Beisitzer Professor Dr.-Ing. habil. Jürgen Fischer ist Hochschullehrer an der FH Erfurt. Der 4. Beisitzer im Vorstand ist Reinhardt Schmidt, Diplom-Elektroingenieur, Beratender Ingenieur mit eigenem Büro und über 30 Jahre unser vormaliger, zuverlässiger ´Schatzmeister´ der Kammer in Zusammenarbeit mit der Buchhalterin der Geschäftsstelle, Frau Adriana Jerchel. Die Geschäftsstelle der IKT ist hauptamtlich tätig. Sie wird von unserem kompetenten Geschäftsführer Dr.-Ing. Rico Löbig seit 2010 geleitet. Die ehemalige stellvertretende Geschäftsführerin, Frau Barbara Wellendorf ist im Ruhestand, aber weiterhin stundenweise für die berufliche Selbstverwaltung tätig. Sie hat fast ihr gesamtes Berufsleben die Kammer und einige vorangegangene Institutionen der Ingenieure begleitet. Frau Franziska Hartung ist Assistentin der Geschäftsführung und meist die erste freundliche Stimme am Telefon unseres Sekretariats. Frau Ines Gehlhaar ist für das Eintragungswesen und Statistik; Frau Adriana Jerchel für die Buchhaltung und Frau Cornelia Lehmer für das Kammerrecht zuständig. Sie ist außerdem unsere Antikorruptionsbeauftragte. Für die Rechtsberatung unserer Mitglieder zeichnet Herr Rechtsanwalt Dr. Axel Lakonen-Schmidt verantwortlich. Die Hoffnung, dass es weitergeht, liegt bei unserer
Auszubildenden im ersten Lehrjahr, Frau Belinda Stanke.
Thesen und Themen
Ich möchte einige ausgewählte Arbeitsbereiche thesenhaft benennen, die unsere Kammerarbeit direkt oder indirekt betreffen. Es sind heute nicht die Zeit oder Gelegenheit auf alle näher einzugehen. Diese Themen werden auch künftig Schwerpunkte unserer Arbeit für die Ingenieure Thüringens sein.
- Die Wiedervereinigung Deutschlands nach Art. 23 GG, war eine vollständige, unbedingte Anpassung und Anschluss des Ostens an das ausdifferenzierte Gesellschaftssystem der Bundesrepublik.
- Die Honorarordnung für Architekten und Ingenieure (HOAI) wurde mit der Wiedervereinigung für die planerischen und ingenieurtechnischen Dienstleistungen auch in Ostdeutschland zur verordneten
beruflichen Richtschnur. Sie ermöglichte die Architektur- und Ingenieurleistungen, organisatorisch geordnet, in inhaltlich ausformulierten Leistungsbildern unterschieden, in verschiedenen Schwierigkeitsgraden, differenziert für bestimmte spezifische Leistungsgruppen und innerhalb von auskömmlichen Honorargrenzen zu erbringen. Dies hatte nach einigen HOAI-Novellierungen bis zur Fassung der Jahre 2009/2013 auch mit
verbindlichen Honorargrenzen Bestand. Die EuGH-Entscheidung vom Juli 2019 veränderte die verbindliche HOAI ab August 2023 zu einer unverbindlichen, ungeregelten, wettbewerbs- und vertragsoffenen HOAI. - Das europa- und weltweit anerkannte Diplom als höchster akademischer Studienabschluss wurde 1999 im italienischen Bologna durch einen Beschluss der europäischen Bildungsminister im Rahmen des
sogenannten Bologna- Prozesses ersetzt durch ein zweigeteiltes Studium in Bachelor und Master. Die Studien-Anschlussmöglichkeiten auf der Bachelor-Ebene insbesondere bei ingenieurtechnischen,
naturwissenschaftlichen, medizinischen und volljuristischen Studiengängen sind im innerdeutschen, mehr noch bei europäischen Universitäten, nur bedingt gegeben. - Mit der Privatisierung der vormals staatlichen Einrichtungen in der DDR sind die Architekten und IOngenieure aus dem in der DDR üblichen Angestelltenverhältnis in die freiberufliche Berufstätigkeit entlassen worden.
- Diese neue eigenverantwortliche Berufstätigkeit für den Osten wurde durch die Kammergründung geordnet, war aber bisher weitestgehend wirtschaftlich, haftungsrechtlich und berufsinhaltlich
unbekannt. - Die politische und wirtschaftliche Ostbindung (Ukrainekrieg) mussten aufgelöst und durch neue Vereinbarungen und Bündnisse in politische und wirtschaftliche Westbindungen gewandelt werden.
- Der Umbau auf alternative Energieformen ist notwendig und hochkomplex, jedoch nicht in der praktizierten Weise, wie sich aktuell immer mehr Energieexperten zu Wort melden.
Kammerphilosophie und -Selbstverständnis
Der Anfang
Die Gründung der Ingenieurkammern in Deutschland vollzog sich im Westen wie im Osten fast zum gleichen Zeitraum, von Anfang bis Mitte der Neunzigerjahre. Eine Ausnahme bildete das Saarland mit der Kammergründung 1975. Das Nachbarland Frankreich legte Wert auf qualitätsgeordnete Dienstleistungen aus Deutschland. Was ist nun das Besondere einer Kammer? Kammern sind Körperschaften Öffentlichen Rechts, ein Stück ausgelagerte hoheitliche Verantwortung und stehen unter der Dienstaufsicht eines Ministeriums der jeweiligen Landesregierung. Sie sind finanziell unabhängig, beitragsfinanziert und bezüglich der Verwendung ihrer Finanzen an die staatlichen Regelungen des jeweiligen Landes gebunden. Als wir unsere Büros in der neuen Wirtschaftsform „Freiberuflichkeit“ aufzubauen begannen, hatte keiner von uns eine
tragfähige wirtschaftliche oder organisatorische Basis. Als freier Ingenieur tätig zu sein, war der Sprung ins kalte Wasser, ein Risiko ohne staatliche Auftragssicherheit. Wir haben bei null angefangen. Ein Computer kostete damals 9-10.000 DM bei monatlichem Einkommen von etwa 1.000 DM. Die Vervielfältigungstechnik, auch die Schreibtechnik war nicht mehr tauglich und mussten modernisiert werden. Schriftsätze wurden entweder nach dem ORMIG-Verfahren oder als Thermokopien bzw. im Lichtkasten auf recht abenteuerliche und gesundheitsgefährdende Weise vervielfältigt, und das mit einer zeitlich begrenzten Lese- und Haltbarkeitsdauer der kopierten Schriftstücke. Was über uns am Beginn des vereinigten Deutschlands 1991 auch gedacht wurde, möchte ich als einen damaligen Ausgangspunkt unserer gemeinsamen Arbeit mit einem Buch-Zitat aus Arnulf Baring, „Deutschland Was Nun?“, Siedler Verlag 1991 ISBN 3-88680-429-1, Seite 59, in Erinnerung bringen: »Die Lage in der ehemaligen DDR ist in der Tat vollkommen anders als bei uns nach 1945. Das Regime hat fast ein halbes Jahrhundert die Menschen verzwergt, ihre Erziehung, ihre Ausbildung verhunzt. Jeder sollte nur noch ein hirnloses Rädchen im Getriebe sein, ein willenloser Gehilfe. Ob sich heute einer dort Jurist nennt oder Ökonom, Pädagoge, Psychologe, Soziologe, selbst Arzt oder Ingenieur, das ist völlig egal: sein Wissen ist auf weite Strecken völlig unbrauchbar. In den meisten Fällen fehlt heute vom fachlichen her eine Berufsperspektive in den Bereichen, in denen man ausgebildet wurde. Wir können den politisch und charakterlich Belasteten ihre Sünden vergeben, alles verzeihen und vergessen. Es wird nichts
nützen, denn viele Menschen sind wegen ihrer fehlenden Fachkenntnisse nicht weiter verwendbar. Sie haben einfach nichts gelernt, was sie in eine freie Marktwirtschaft einbringen könnten.«
Das war schon 1991 gelinde gesagt eine Gruppenverleumdung, die schon im erstem Anschein absolut falsch war. Ich hatte bei dienstlichen Gelegenheiten an Hochschulen und Universitäten in den alten Ländern, auch bei fachlichen Begegnungen mit westdeutschen Architektur-Ingenieurbüros, die Möglichkeit, ehemalige Absolventen aus Weimar und anderen vormaligen DDR Hochschulen zu treffen. Deren Vorgesetzte haben ungefragt die exzellent breite Ausbildung gelobt, besonders ihre sofortige Verwendung ohne Einarbeitungszeiten. Der Autor Professor Baring († 2019) gehörte zu den national und international wissenschaftlich Arrivierten, war ein aus vielen deutschen Talkshows bekannter Jurist, Politologe und Hochschullehrer der Freien Universität Berlin. Wie auch immer: Dass in 30 Jahren bei gegenseitiger Achtung, Kooperation und gemeinsamer Arbeit im geeinten Deutschland viel erreicht und entwickelt wurde: wirtschaftlich, sozial und technisch-wissenschaftlich, ist sichtbar und beeindruckend. Nur das zählt. Mehr nicht.
Dennoch gibt es in manchen Ostdeutschen einen emotionalen Nachhall. Für viele, deren wirtschaftlicher oder sozialer Ast abgeschnitten worden war, gab es trotz der neuen Freiheit und allen Möglichkeiten keine Basis für einen wirtschaftlichen Neuanfang, geschweige denn einer Eigenständigkeit. Was aus der Ost-Vergangenheit geblieben ist und Arnulf Baring als Verzwergung bezeichnet, mag teilweise zutreffen. Bei vielen von
uns fehlt das aktive Selbstbewusstsein, zumindest im Vergleich zum westdeutschen Durchschnitt. Wir haben gelernt, oder mussten es lernen, uns kein ´X´ für ein ´U´ vormachen zu lassen: Also einen Sachverhalt erst in seiner Komplexität zu analysieren, um dann eine Entscheidung zu treffen, wenn sein Wesen nach einer Überprüfung feststeht und durch reale Erfahrungen belegt ist. Deshalb neigen wir nicht zu Schnellschüssen und aufgeblasenen Luftballons, also den Schein vor das Sein zu stellen, oder Hologramme mit der Realität zu verwechseln. Das gilt auch in der Politik, die natürlich Ideen braucht, aber auch handfeste und interessenneutrale Experten zur notwendigen Beratung, Herstellung und Praxisreife. Ein Planungs-Novum – der harmlosen Art – politisch präferiert ist für unsere Aufträge das Kürzel „BIM“. Die Buchstaben stehen für Bauen, Informationen und Modellbildung, und als Begriff etwas sperriger für Bauwerks-Datenmodellierung, was die logische Folge des organisatorischen Planungs- und Bauablaufs eigentlich auf den Kopf stellt. Wie dem auch sei,
was irgendwo erdacht und ´unters Volk gebracht wird´, ist manchmal durch die Unlogik das Besondere zum Nachdenken. Manchmal ist man geneigt zu rufen, dann fragt uns doch! Wir haben als Kammer einen Informationsauftrag und verfügen über entsprechende Netzwerke, Arbeitskreise mit Verbindungen zum ´buildingSmartDeutschland´, dem Kompetenznetzwerk für Open-BIM und die Digitalisierung des Bauwesens.
Kammer − Statistik, Selbstverständnis, Lücken im Gesetz Im Gründungsjahr hatten wir 686, Listeneintragungen schon ein Jahr später verdoppelte sich diese Zahl. Der Höhepunkt war 2001 mit 1865 Einschreibungen erreicht. Dann fielen die Zahlen jährlich um etwa 30-40 Ausgetragene, bedingt durch das natürliche Ende der Berufstätigkeit aber auch, weil die Freiberuflichkeit stetig weniger nachgefragt ist.
Eine fachobjektive, interessenneutrale Ingenieur- und Planungsleistung setzt für die Mitgliedschaft in den Kammern die wirtschaftliche Unabhängigkeit voraus. Eine persönliche Insolvenz schließt deshalb eine Kammermitgliedschaft aus, oder setzt sie zeitweilig aus.
Oft wurden wir bei Vertragsabschlüssen durch Rabattanfragen auf unsere Leistungen in einen Billigwettbewerb gedrängt. Das führt zwangsläufig zu Nachlässigkeiten, Fehlern oder Schäden. Haftpflichtversicherungen müssen dann regulieren. Das sind Steuergelder, die verschwendet werden, was meist in den Bewertungen übersehen wird. Mit der Privatisierung im Osten sind viele Einrichtungen zerschlagen oder aufgelöst worden. Es haben sich zunächst kleine neue Büros gegründet, oft mangels finanzieller Möglichkeiten im Tandem mit einem westdeutschen Partner. Diese Büros haben sich in den Folgejahren durch ihre wirtschaftlich erfolgreiche Tätigkeit saniert und emanzipiert. Geblieben ist aber im gesamtdeutschen Vergleich eine relative Kleinteiligkeit unserer Büros. In Thüringen, auch in anderen ostdeutschen Kammern sind bei etwa 85 % unserer Kammerzugehörigen weniger als 8-10 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern beschäftigt. Nur etwa 15 % unserer Büros haben mehr als 20 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Eine solche Struktur schränkt unsere wirtschaftlichen Möglichkeiten nicht nur im nationalen, sondern auch im internationalen Rahmen ein. Wenn ich ohne statistischen Hintergrund von einem Stimmungsbild in dieser Frage spreche, dann sehen wir
bei unseren Ingenieuren, wie auch in anderen freiberuflichen Berufen eine Verschiebung von der Freiberuflichkeit zum Angestelltenverhältnis. Viele sehen für diesen Wechsel ihre Komfortzone, in der wirtschaftliche Einbußen gegen den Stress der Akquise, nun auch durch EU-Verpflichtungen und bürokratische Auflagen abgewogen werden.
Das Modell der Planungsgemeinschaften hat sich nicht durchgesetzt. Im Übrigen haben unsere Büros Schwierigkeiten auftragsbezogene Kreditlinien im direkten Bankgeschäft zu erhalten. Unsere Banksicherheiten stecken leider in unseren Köpfen. Und dennoch, in Thüringen tragen ca. 10-15.000 weibliche und männliche Ingenieure und Mitarbeiter in freiberuflich tätigen Büros mit knapp 5% zum jährlichen Haushalt des Freistaates bei. Von den Erlösen leben etwa 30.000-50.000 Personen, das sind 2-3 % aller Thüringer.
Als die Ingenieurkammern vor 30 Jahren gegründet wurden, galt der Slogan: „Kammermitglieder sichern mit dem Verbraucherschutz das Gemeinwohl im Bauen“. Die freie Marktwirtschaft, wie sie für Zahnbürsten, Schuhe,
Kleiderschränke oder andere Gegenstände des täglichen Bedarfs gilt, kann nicht verallgemeinert werden. In der Ethik von Berufen, die an den Grundfesten der Gemeinschaft tätig sind, wie Ärzte, Juristen, Architekten und Ingenieure u.v.m. muss in erster Linie die Qualität dieser Leistungen, manche mit einem Amtseid belegt, das entscheidende, auch marktwirtschaftliche Kriterium im Leistungsvergleich sein. Dass dies zumindest in Deutschland bisher durch die öffentlich-rechtlichen Berufskammern unter staatlicher Aufsicht und einer anteiligen hoheitlichen Verantwortung sichergestellt war, gehörte zur Gründungsphilosophie und -Veranlassung der Kammern.
Leider ist in diesen 30 Jahren fast unmerklich, aber intensiv betrieben, ein Erosionsprozess spürbar sowohl in der deutschen Bundesrepublik und den länderbezogenen Kammern als auch durch Einflüsse aus der EU. Aus dem Kreis unserer weiblichen und männlichen Mitglieder gibt es zunehmend resignierende Kommentare. Die Qualität sei offensichtlich nicht mehr das ausschlaggebende Kriterium, sondern der Angebotspreis und die davon abhängige Auskömmlichkeit nicht mehr gegeben. Es bestehe der Eindruck, dass wir als Kammer, dieser Entwicklung der letzten Jahre zu begegnen, von unseren offiziellen Partnern mehr geduldet als aktiv unterstützt werden.
Einige unserer Kammerangehörigen sehen in der gegenwärtigen Entwicklung und durch die Mit- und Ohne(!)gliedschaft auferlegten Anforderungen der beruflichen Qualifikation und der ständigen Weiterbildung keinen wirtschaftlichen Nutzen, solange es nach den politisch gewollten Regelungen möglich ist, dass im Ingenieurbereich jeder, der die vier Grundrechenarten beherrscht oder auch nicht, Ingenieurleistungen erbringen und anbieten kann oder nieder preisliche Leistungen ohne Qualifikationsnachweis aus dem Ausland eingekauft werden können. Wenn wir das dulden, geben wir unsere international geachtete Kompetenz und unser geschätztes Planungs– und Ingenieurdienstleistungspotential auf.
Dienstleistungen – europaweit
Unsere Dienstleistungsaufgaben im Entwurfs- und ingenieurtechnischen Bereich sind komplexer geworden. Wir unterliegen einer zunehmenden Fülle von Vorgaben, Kontrollen, auch Restriktionen, die nur zum Teil unserem Produkt dienlich sind. Was bisher in den seit nunmehr mehr als 150 Jahren gültigen und praxisbewährten Gebühren- oder Honorarordnungen für Architekten und Ingenieure durch hochwertige Dienstleistungen in einem technischen, sozialen und wirtschaftlich geordneten Prozess funktioniert hat, wird mit teilweise unsinnigen Vorgaben und Verpflichtungen für die Erfüllung unserer Leistungen verbürokratisiert, ineffektiv aufgebläht, sogar glattgebügelt und verkürzt. Wir bekennen uns zu freien europäischen Dienstleistungen. Aber auch hier gelten die in den Grundsatzpapieren der EU festgelegte nationalen Interessen. Die regionalen, europäischen Unterschiede müssen in den wirtschaftlichen, sozialen und technischen Randbedingungen auch bei europaweiten Ausschreibungen beachtet werden. Ein Grundsatz der EU war und ist es, bestimmte regionale kulturelle und wirtschaftliche Besonderheiten, die zum Gemeinwohl der Region gehören, zu definieren und zu respektieren.
Es steht die Frage: Überlassen wir unsere regionalen, kulturbezogenen Dienstleistungen den großen, international vernetzten Consulting-Einrichtungen, in deren Auftrag dann kleine Büros aufgabenbegrenzt tätig werden. Dies zu Bedingungen, die nicht mehr geregelt sind und bis dato einigermaßen unsere Auskömmlichkeit gesichert haben, aber in der Perspektive durch vielleicht geknebelte Verträge nicht mehr gegeben ist.
Seit August 2023 gilt europaweit, auch im Inland, für Planungsleistungen ab einem bestimmten Schwellenwert eine europäische Ausschreibungspflicht. Der Schwellenwert liegt seit dem Januar 2024 bei 221.000 € und ergibt sich aus der Addition aller Honorare für objektbezogene Planungsleistungen, auch der peripheren oder nicht unbedingt baubezogenen oder beigestellten Leistungen. Im Übrigen gilt nun eine freie und offene Vertragsgestaltung.
Der Schwellenwert von 221.000 € entspricht einem Bauleistungsvolumen von etwa 1,1 Millionen €. Das ist ungefähr der Wertumfang für die Errichtung einer kleinen bis mittleren, voll ausgebauten Schule oder eines Kindergartens.
Das aber sind typische Objekte und Bauleistungen, die einen regionalen Zuschnitt, also die kulturellen oder landschaftstypischen Bezüge im kommunalen Interesse haben sollten. Man kann darüber streiten, wann ein
Schwellenwert hoch genug ist, um regionalen Bietern Angebotschancen einzuräumen. Das könnte beispielsweise durch einen variablen, regionalen Schwellenwert für gesamteuropäische Ausschreibungen
erreicht werden, der die Kleinteiligkeit nicht nur im ehemaligen Osten Deutschlands, sondern auch in vergleichbaren europäischen Ländern nach einer neuen Gesetzesnovellierung in Brüssel vereinbart, abbilden würde.
Was zu verbessern wäre – Prognose und Fazit
- Wir fordern, den bisher geltenden gesetzlichen Rahmen zu ändern und die verpflichtende Kammermitgliedschaft für baubezogene Ingenieurleistungen, analog den geltenden Regeln für Architekten, festzuschreiben.
- Im gesamteuropäischen Maßstab muss zur Chancengleichheit bei der Auslobung von Dienstleistungen die ursprüngliche Grundidee der EU stärker und differenzierter zum Ausdruck kommen. Der statisch
festgelegte Schwellenwert [gegenwärtig von 221.000 €] sollte von einem regional abweichenden verhältnisgerechten Schwellenwert, periodisch evaluiert, in gesamteuropäischen Ausschreibungen berücksichtigt und angewendet werden. - Es ist zu prüfen, ob in Thüringen unabhängig von einem Regierungswechsel und frei von neuen inhaltlichen bzw. organisatorischen Verantwortlichkeiten einzelner Fachministerien, eine dauerhafte Rechtsaufsicht bei der Staatskanzlei einzurichten ist. Dies würde die notwendige Einflussmöglichkeit des Ministerpräsidenten bei den meist Landes-strukturbestimmenden Maßnahmen beider Kammern rechtfertigen und förderlich sein.
- Das Haftungsprinzip muss zwischen den in der Kammer eingetragenen Mitgliedern und geeigneten leistungsfähigen Haftpflichtversicherern vertraglich in Form eines Rabattsystems geregelt werden. Dafür sind entsprechende Gesetzesgrundlagen zu schaffen.
- Ziel muss es sein, ein landesbezogenes, flächendeckendes, qualitätsgesichertes Netz für Dienstleistungen der freien Ingenieurberufe zu schaffen, auch über die innerdeutschen Landesgrenzen hinweg.
- Die finanziellen Möglichkeiten für nachberufliche Versorgungsleistungen (Versorgungswerk) sollten nach den aktuellen Erfahrungen und Bewertungen von Experten auf freiwilliger Basis zum Regelfall für Kammermitglieder gemacht werden.
- Die Zusammenarbeit zwischen der verantwortlichen Politik und den fachbezogenen Beratungen der Kammern muss strukturell und inhaltlich evaluiert und verbessert werden.
- Der sichtbare Trend, dass durch allgemeineuropäische Nivellierungen auch die kleinsten regionalbezogenen und kulturellen Besonderheiten verwischt werden, hebelt das föderale System Deutschlands sukzessive aus und widerspricht insoweit im Einzelfall dem GG. Die baubezogenen Kammern sind in diesem System grundgesetzlich verankert. Allen gesamteuropäischen Verallgemeinerungen, die dem Föderalismus entgegenstehen und die regionalen kulturellen und sozialen Besonderheiten nicht berücksichtigen, sind im Einzelfall politisch zu begegnen.