Seit dem 1. Januar 2021 ist die Erste Änderungsverordnung zur Honorarordnung für Architekten und Ingenieure vom 10. Juli 2013 (BGBl I Nr. 58 S. 2636) in Kraft getreten. Mit dieser Änderungsverordnung und dem geänderten Gesetz für Ingenieur- und Architekturleistungen (BGBl I Nr. 52, S. 2392) vom 18. November 2020 hat die Bundesregierung das Feststellungsurteil des EuGHs vom 4. Juli 2019 in nationales Recht umgesetzt.
Als Reaktion auf Inkrafttreten der geänderten HOAI hat der Präsident der Ingenieurkammer Thüringen in enger Zusammenarbeit mit dem Arbeitskreis Wettbewerb und Vergabe der Ingenieurkammer Thüringen ein Rundschreiben an die Kammermitglieder initiiert, um auf die gegenwärtigen Entwicklungen im Leistungswettbewerb der öffentlichen Auftragsvergabe aufmerksam zu machen.
Rundschreiben an die Mitglieder der Ingenieurkammer Thüringen
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen,
der Arbeitskreis Wettbewerb und Vergabe der Ingenieurkammer Thüringen geht im ERFURTER APPELL (DIB 10/2020) auf die gegenwärtige Situation bei der Vergabe von Planungsleistungen ein und leitet daraus berechtigte Forderungen für den Berufsstand ab.
Auch die MAINZER ERKLÄRUNG der Präsidenten der Ingenieurkammern der Länder, die im Rahmen der 66. Bundesingenieurkammerversammlung am 9. Oktober 2020 in Mainz verabschiedet wurde, geht auf den Themenbereich „Vergabe von Planungsleistungen – Qualität und Verbraucherschutz – Weiterentwicklung der HOAI“ ein und fordert explizit, „… dass die Vergabe von Planungsleistungen im Leistungswettbewerb erfolgt und nicht auf das Kriterium „niedrigster Preis“ reduziert wird.“.
Das Zustandekommen beider Positionspapiere macht sehr deutlich, dass der Berufsstand zunehmend darüber besorgt ist, mit welcher Dynamik das bewährte Prinzip des Leistungswettbewerbs im Bereich der öffentlichen Auftragsvergabe zur Disposition gestellt wird.
Die Prämisse, mit dem Vergabeverfahren stets die beste Planungsleistung anzufragen und nicht das billigste Honorarangebot, wird immer häufiger, nahezu unverhohlen, ignoriert – das Bewertungskriterium Honorar mit Wichtungen versehen, die selbst Fachfremden signalisieren dürften, dass einer kreativen Ingenieurleistung offensichtlich nicht mehr der Wert beigemessen wird, der ihr zusteht.
Warum sich öffentliche Auftraggeber der logischen Schlussfolgerung verschließen, dass ein Zusammenhang zwischen Honorar, Qualitätssicherung und Verbraucherschutz besteht, ist nicht nachvollziehbar.
Ein „Billigprodukt Ingenieurleistung“ kann sich im Bereich „Unikat“ jedoch nicht durchsetzen. Sobald Ingenieurbüros nicht mehr wirtschaftlich agieren, werden sie über kurz oder lang nicht mehr am Markt teilnehmen können. Eine wahrscheinlich daraus resultierende Monopolisierung bei den Anbietern von Ingenieurdienstleistern wird dazu führen, dass „Planungskonzerne“ den Markt dominieren und der Effekt eintritt, dass den Auftraggebern die Preise diktiert werden können.
Das Dilemma der gegenwärtigen Entwicklung im Vergabebereich besteht also darin, dass nicht erkannt wird, welche Nachwirkungen ein ungehemmter Drang nach einem maximal billigen Einkauf von Ingenieur-Knowhow hervorrufen kann.
Die Anzahl der Wettbewerbsteilnehmer wird sich sukzessive reduzieren, denn die Auftragsvergabe an „billige Ingenieurschnäppchen“ hat zur Folge, dass Büroinhaber das Fachpersonal nicht mehr so entlohnen können, wie es der Erhalt des Büros erfordert.
Mit den Möglichkeiten zur Gewinnung von „Ingenieurnachwuchs“ braucht sich in einem derartigen Stadium dann nicht mehr befasst werden.
Für die Auftraggeber könnte sich die Durchführung von Auftragsvergaben immer schwieriger gestalten, da die dann noch vorhanden Planungseinheiten eine entsprechende Marktdominanz aufweisen.
Dieses Szenario legt nahe, dass sowohl die öffentlichen Auftraggeber als auch die klein- und mittelständisch geprägte Bürostruktur die „Verlierer“ einer, größtenteils selbst verschuldeten Entwicklung sein werden.
Es ist unstrittig, dass Auftraggeber mit den öffentlichen Einnahmen, die für Planungen bzw. Baumaßnahmen eingesetzt werden, verantwortungsvoll umgehen müssen und entsprechenden Haushaltsgrundsätzen verpflichtet sind.
Preisdumping zu befördern, Vergabekriterien überzustrapazieren und die Festlegung unsinniger Referenzvorgaben, dürften nicht unter derartige Vorgaben fallen.
Die anscheinend schwindende Bereitschaft, für Qualität den entsprechenden Preis zu zahlen, wird überdies dazu führen, dass der Qualitätsstandort Deutschland in Gefahr gerät.
Ein gegenseitiges Eingeständnis dahingehend, dass eine angemessene bzw. auskömmliche Honorierung kein freiwilliges Entgegenkommen sondern „beidseitige Notwendigkeit“ ist, kann ein Indiz dafür sein, welche Wertschätzung zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer besteht.
Die Bereitstellung qualitativ hochwertiger Planungsleistungen ist nur von Fachleuten zu erwarten, die auf der Grundlage ihrer soliden und anwendungsbereiten Ausbildung entsprechend entlohnt werden.
Mitarbeiterkompetenz und Ingenieurknowhow können nur solange zur Verfügung gestellt werden, wie den betriebswirtschaftlichen Ansprüchen in den Büros potentieller Auftragnehmer entsprochen werden kann.
Selbst wenn es Büroeinheiten geben sollte, die es sich leisten können, ihre Ingenieurdienstleistungen „unter Wert zu verkaufen“, dann ist dieses Verhalten aus berufsethischer Perspektive zu verurteilen und im Rahmen der Kammerkompetenz zu sanktionieren.
Die HOAI, die das EuGH-Urteil vom 4. Juli 2019 berücksichtigt, ist am 1. Januar 2021 in Kraft getreten. Die ehemals verbindlichen Mindest- und Höchstsätze in der Honorar- und Gebührenordnung für Architekten und Ingenieure wurden für unvereinbar mit EU-Recht erklärt und sind demzufolge leider „historisch“.
Der Erfolg der intensiven Begleitung des „Umsetzungsprozedere“ auf Bundesebene durch die Bundesingenieurkammer, die Bundesarchitektenkammer, den AHO und allen weiteren Planer-Organisationen besteht darin, dass die HOAI auch ab 2021 eine verlässliche Grundlage für die Beschreibung und Kalkulation von Ingenieurleistungen bietet und die seit dem 4. Juli 2019 bestehende Rechtsunsicherheit beendet ist.
Von zentraler Bedeutung für beide Berufsstände, Architekten und Ingenieure, ist jedoch, dass die Angemessenheit der nach HOAI ermittelten Honorare in der Begründung der Honorarverordnung, und insbesondere in der neuen Gesetzesfassung zur Regelung von Ingenieur- und Architektenleistungen (ArchLG), der Grundlage der HOAI, verortet ist.
Der Angemessenheitsbegriff stellt klar, dass die HOAI die Richtschnur für die Vergütung von Planungsleistungen ist und eine untrennbare Kombination zur Qualitätssicherung und zum Verbraucherschutz besteht. Das ist als eindeutige Positionierung des Gesetzgebers zu verstehen, dass ein Leistungswettbewerb durchzuführen ist und kein Preiswettbewerb.
In § 1 Abs. 1 Satz 2 ArchLG ist formuliert: „Bei der Bestimmung der Honorartafeln zur Honorarorientierung nach Satz 1 Nummer 2 ist zur Ermittlung angemessener Honorare den berechtigten Interessen der Ingenieure und Architekten … Rechnung zu tragen.“.
Es ist zu hoffen, dass professionelle öffentliche Auftraggeber ein Interesse daran haben, dass vorgegebene Qualitätskriterien eingehalten werden und eine ordnungsgemäße Prozessabwicklung erfolgt. Mit dieser Zielstellung ist die Führung von Preiswettbewerben selbstverständlich nicht in Einklang zu bringen.
Wir appellieren deshalb an alle Kammermitglieder, sich auf die „Angemessenheitsregelung“ zu berufen und keine Honorare unterhalb der ehemaligen HOAI-Mindestsätze zu akzeptieren bzw. sogar selbst anzubieten.
Es ist wichtig, dass der Wert der eigenen Ingenieurleistung erkannt wird, denn Planungen sind wertbeständige Produkte, die nicht „verramscht“ werden dürfen!
Dipl.-Ing. Elmar Dräger